Vor einigen Wochen besuchte ich eine liebe neue Freundin. Zum ersten Mal lernte ich ihre Familie kennen und bekam einen kleinen Einblick in ihr Leben. Wir sprachen viel miteinander und tauschten uns aus.

Als ich auf dem Heimweg war und all das Gesagte reflektierte und mit Gott besprach, da kam mir ein Satz, den ich ihr mitteilen sollte:

Sei gnädiger. Sei barmherziger. Mit dir. Mit deinem Mann. Mit deinem Kind.

Ich hatte den Eindruck, dass sie einen sehr hohen Anspruch an sich selbst und an fast alles in ihrem Leben hat. Das ist auch erstmal gar nichts falsches. Aber wenn es uns abhält, auch das Gute zu sehen, dann wird es ein Antreiber, der uns in die völlig falsche Richtung treibt.

Sei gnädiger. Dieser kurze Satz hallte in meinen Gedanken noch nach, als ich in die neue Woche startete. Und wisst ihr, was dann passierte?

Gott öffnete mir mit einem Mal die Augen für mein eigenes Leben. Diesen Satz, den ich gut gemeint meiner Freundin zusprechen wollte, der sprach plötzlich ganz laut zu mir.

Plötzlich sah ich, wo ich voll ungnädig mit meinen Kindern umging. Wie ich unbarmherzig mit mir selbst ins Gericht ging, wenn mir meine Fehler bewusst wurden und wie ich ohne Gnade das Verhalten meines Mannes sah. Ich erschrak.

Warum ist es so leicht, all das bei anderen zu sehen und ihnen zuzusprechen, dass sie gnädiger sein dürfen, den Druck rausnehmen und leichter leben - und im eigenen Leben, da geschieht all das und ich nehme es kaum wahr.

Ich spürte, wie ich selbst diesen gnädigen Blick brauche. Zuallererst auf mich selbst. Und das hat nichts damit zu tun, dass wir über Sünde hinwegschauen oder sie tolerieren oder sündiges Verhalten verharmlosen. Es geht darum, zu wissen, wer ich bin in Gottes Augen. Es geht darum zu verstehen, dass ich dieser verlorene, stinkende Sohn bin, der immer wieder zu seinem Vater zurückkehrt und von ihm in die Arme geschlossen wird, bedingungslos. Es geht darum zu verstehen, dass Jesus Christus alles ist, was ich brauche, dass seine Gnade genügt und dass seine Vergebung ausreicht auch für meine schlimmsten Tage.

Und ich brauche den gnädigen Blick vor allem für meine Nächsten, meine Familie. Hier ist oftmals die größte Herausforderung. Die Menschen, die ich am meisten liebe, die bekommen meine Unbarmherzigkeit am meisten zu spüren. Das will ich nicht. Ich will barmherzig sein. Mit den Gefühlsausbrüchen meines Jüngsten, mit den Widersprüchen meiner Zweitjüngsten, mit der anderen Sicht auf die Realität meiner zweiten und mit den frechen Sprüchen meines Ältesten. Ich will barmherzig sein mit der Andersartigkeit, mit der Langeweile, dem Anspruchsdenken - einfach barmherzig sein mit dem Charakter meiner Kinder. Auch hier: es heißt in kleinster Weise, dass wir alles durchgehen lassen, nicht mehr erziehen und prägen, nicht mehr unsere Verantwortung als Eltern wahrnehmen.

Aber ich will mir die Worte Jesu immer wieder zu Herzen nehmen, die so herausfordernd sind für unseren menschlichen Verstand:

Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lukas 6,35-36)

Er ist gütig gegen die Undankbaren und die Bösen. - Was für eine Aussage. Er ist gütig auch zu mir. Und dieses barmherzige Herz meines Vaters im Himmel will ich immer besser verstehen und lieben und nachahmen lernen.

Sei gnädiger. Wie sehne ich mich danach, das zu leben. Nicht weil ich diese Gnade verdient habe, sondern im Gegenteil, weil ich zutiefst von Gott begnadigt bin und fähig gemacht, diese Gnade weiter zugeben an andere Menschen.